Fritz Vilmar

Zum Begriff der Strukturellen Kolonialisierung der DDR

Eine theoretische Klärung

Es wäre die Aufgabe der deutschen Soziologen und Politologen gewesen, spätestens seit 1991 eine (system)kritische Analyse der Vereinigungspolitik zu erarbeiten und insbesondere den Zusammenhang deutlich zu machen zwischen den schwerwiegenden politischen Fehlsteuerungen in diesem Prozeß und den vorherrschenden Interessen der Machteliten in Westdeutschland – einer Interessenverflechtung, die trotz gewaltiger finanzieller Transferleistungen zu dem Mißerfolg des “Aufschwungs Ost” geführt hat.1 Aber seit zehn Jahren ereignet sich das Un­glaubliche: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ignoriert die große Masse der “Transformations”-Studien die Frage der Verantwortlichkeit und der durch jene Herrschaftsinteressen bestimmten gravierenden Fehlentwicklungen ebenso wie die Möglichkeiten und die Notwendigkeit einer alternativen Politik.

 

 

Transformation, Demokratisierung oder Kolonialisierung?

Es ist wissenschaftlich sehr fragwürdig, die Vereinigungspolitik unter dem Begriff der “Transformation” zu beschreiben. Denn dieser scheinbar wertfreie Begriff verführt dazu, den Vereinigungsprozeß mehr oder weniger alternativlos als “Fatum” zu beschreiben, nicht als ganz bestimmte, interessengeleitete Politik, in der es Akteure und Opfer, gewählte und ausgeschlagene Optionen gibt, daher nicht zuletzt die wissenschaftliche, zumindest die demokratietheoretische Pflicht, diese Poli­tik an den fundamentalen Kriterien unserer Verfassung zu messen, also an den Kriterien der Menschenwürde und der freien demokratischen Mit- und Selbstbestimmung der Betroffenen. Und diese ist nicht mit dem “Blankoscheck” der Wahl­ergebnisse vom 18. März 1990 abgetan.

Legt man diese demokratischen Grundwerte als Urteilskriterien für den Verei­nigungsprozeß zugrunde, so zeigt sich, daß es zwar einen essentiellen Demokrati­sierungsprozeß nach der Wende in Ostdeutschland gegeben hat, daß es aber fata-­lerweise gleichzeitig, wie wir in unserer grundlegenden Untersuchung über die “Kolonialisierung der DDR”3 gezeigt haben, einen Prozeß der “Strukturellen Kolonialisierung” gegeben hat. Dieser Begriff ist vielfach als polemisch zurückgewiesen worden. Im folgenden soll daher gezeigt werden, daß und warum dieser Begriff sachgerecht ist, indem er präzise “begreift”, was unter der westdeutschen Dominanz in der DDR geschehen ist.

 

 

Ein Begriff breitet sich aus

Vorab ist darauf hinzuweisen, daß der Begriff der Kolonialisierung zur Bezeichnung der Vereinigungspolitik nicht etwa am grünen Tisch einiger – womöglich ideologisch prädisponierter – Kritiker entstanden ist. Schon im Herbst 1990 ist der Begriff der Kolonisierung bei den Ostdeutschen offensichtlich so weit verbreitet gewesen, daß sich das (eher konservative) Institut für Demoskopie in Allensbach veranlaßt sah, dem nachzugehen. Man stellte im November 1990 (und auch ein Jahr später) den Interviewpartnern die Frage, ob sie “im Zusammenhang mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik schon einmal den Begriff der ‘Kolonisierung’ gehört hätten” oder nicht. 36 % der Befragten, im Oktober 1991 aber bereits 49%, kannten den Begriff, und 46 % (1991 bereits 53 %) empfanden den Bei­tritt auch tatsächlich als Kolonisierung.4 Bereits in den ersten Jahren der Ver­einigungspolitik wurde der Kolonialisierungsbegriff also zunehmend bekannt und auch zunehmend als zutreffend beurteilt5. Bereits 1991 schrieben zwei prominente Ökonomen der ZEIT, Peter Christ und Ralf Neubauer: “Objektiv gesehen läuft alles auf eine Kolonialisierung der Wirtschaft und Gesellschaft der ehemaligen DDR hinaus. Schon die an die neuen Bundesbürger herangetragenen Erwartungen, die westlichen Werte, Lebens- und Arbeitsstile schleunigst zu verinnerlichen, entspringt kolonialer Denkweise.”6 Auch ausländische Beobachter verwiesen schon früh auf die kolonialistische Struktur der Vereinigungspolitik: François Bafoil, ein Experte für die osteuropäische Wirtschaftsentwicklung, schrieb in einer auf Deutschlandprobleme spezialisierten französischen Zeitschrift, daß “14 Monate nach dem Fall der Mauer die Mauer in den Köpfen weiter zu bestehen scheint” und daß dies vor allem daraus resultiert, daß die Ostdeutschen mit Enttäuschung feststellen mußten, daß ihnen “keine andere Rolle zu spielen übrig geblieben sei, als die eines Marktes oder einer Kolonie”7; derselbe Autor bezeichnete eineinhalb Jahre später noch die westdeutsche Wirtschaftspolitik gegenüber der ehemaligen DDR als “Kolonialpolitik”8. Ein Sprecher der Bürgerbewegungen, Jens Reich, betrachtete sogar den Einigungsvertrag als kolonialistisch: “Zusammengefaßt, der Vertrag versetzte uns in ein Verhältnis zwischen Kolonie und Metropole”.

Die Frage, warum ein derart breit in die allgemeine und kritisch-publizistische Diskussion eingegangener Begriff nicht in den wissenschaftlichen “Trans­forma­tions”-Diskurs eingegangen ist, beantwortet sich sehr einfach: Die deutschen Wissenschaftler befürchteten – mit Recht, wie sich gezeigt hat – als “Linke” ausgegrenzt zu werden. “Fast jeder, der ihn (den Begriff der Kolonialisierung; F.V.) benutzt, weiß um die Tabuisierung, und kaum ein integrationswilliger Ostdeutscher könnte es sich erlauben, ihn ohne Strafe des Ausschlusses aus diversen communities zu benutzen”10. Die Herausgeber und Autoren des zitierten Sammelbandes über die “Kolonialisierung der DDR”, Dümcke und Vilmar, haben diese Ausgrenzungsmechanismen bei vielen Gelegenheiten zu spüren bekommen, und wenn es nicht im Dezember 1995 die exzellente Rezension von Peter von Oertzen in der ZEIT gegeben hätte, so wäre die Strategie des Totschweigens dieser bis­her einzigen umfassenden kritischen Darstellung der Vereinigungspolitik auch weitgehend erfolgreich gewesen.

Bevor ich mich im Detail der Klärung des Kolonialisierungsbegriffes zuwende, möchte ich aber noch einmal ausdrücklich betonen, daß dieser nur einen Aspekt des Vereinigungsprozesses beschreibt. Auf der anderen Seite gab es zweifellos einen Prozeß der Demokratisierung. Die wichtigsten Resultate dieser positiven Transformation seien hier vorab noch einmal ausdrücklich genannt:

  Der Beitritt hat den Ostdeutschen erlaubt, Bürger eines liberalen Verfassungsstaates zu werden.

  Es hat die seit langem als notwendig erkannte Ablösung der herrschenden Machteliten in der DDR stattgefunden; leider wurde der “demokratische Befreiungsschlag” des Eliteaustauschs teilweise kolonialistisch konterkariert, insofern in wesentliche Positionen nicht Angehörige der in der DDR durchaus existierenden Gegenelite einrückten, sondern Angehörige westdeutscher Eliten (vgl. Kap. 3).

  Die öffentliche Information und Meinungsbildung wurde von der Vorherrschaft der SED, ihrer Zensur und ihren Pressionen befreit – allerdings geriet sie in erheblichem Ausmaß unter die Vorherrschaft westdeutscher, meist kon­servativer Medienkonzerne.

  Die Einführung föderaler Strukturen in das politische System der DDR, die Schaffung der “neuen Bundesländer”, beendeten den realsozialistischen Zentralismus.

  16 Millionen Bürger der ehemaligen DDR erfreuen sich der Freizügigkeit, insbesondere einer Reisefreiheit als eines demokratischen Grundrechtes, dessen Verweigerung in der DDR besonders schmerzlich empfunden wurde.

  Durch energischen Ausbau des Straßen- und Telekommunikationsnetzes wurden die Möglichkeiten der Mobilität und Kommunikation in Ostdeutschland entscheidend verbessert.

 

Allerdings haben diese demokratischen Errungenschaften viel von ihrem Glanz verloren; nicht nur wegen der damit einhergehenden Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit, sondern auch durch die in unserer kritischen Studie11 präzisierten neuen kolonialistischen Einschränkungen. Man kann auf dem Hintergrund dieser empirischen Ergebnisse tatsächlich von zwei parallel verlaufenden politi­schen Prozessen in der ehemaligen DDR sprechen: einem der Demokratisierung und einem der Kolonialisierung, und man kann nur hoffen, daß sich die Ostdeutschen zunehmend aus der westdeutschen Vormundschaft befreien. Bereits sind Tendenzen zur Wiedergewinnung eines eigenen neuen soziokulturellen Selbstbewußtseins erkennbar: Die Ostdeutschen beurteilen, wie Umfragen zeigen, in zunehmendem Maße soziale Sicherungen und Errungenschaften der DDR, im Rückblick, als überlegen im Verhältnis zu denen der BRD;12 ostdeutsche Popmusik erlebt eine Renaissance, DDR-Literatur findet zunehmend wieder Beachtung. Mit anderen Worten: Der Zustand der Kolonialisierung kann überwunden werden, auch dies lehrt die Geschichte, und die USA sind dafür das eindrucksvollste Beispiel.

Im folgenden werde ich – mit Bezug auf Jürgen Habermas – zeigen, daß es erlaubt und sogar sachgemäß ist, den Kolonialisierungsbegriff, als soziologischen Strukturbegriff, aus dem historischen Zusammenhang in einen generellen zu transponieren (ein begrifflicher Vorgang übrigens, der für einen großen Teil der politikwissenschaftlichen Begriffe, angefangen bei dem der Demokratie, gilt13 !).

 

 

Generalisierung eines historisch gewachsenen Begriffs

Das Verfahren, einen zunächst geschichtlich fixierten Begriff aus seinem historischen Kontext herauszulösen, um aktuelle bzw. sich wiederholende Prozesse auf den Begriff zu bringen, stellt ein übliches sozialwis­senschaftliches Verfahren dar. Da hierbei nicht mehr die geschichtlich einmaligen Ereignisse wesentlich sind, sondern die ähnlich immer wiederkehrenden Abläufe und Verhaltensweisen (= Strukturen), sprechen wir von “Struktureller Kolonialisierung”.

Kein Geringerer als Jürgen Habermas, über dessen Geltung als führender deutscher Sozialphilosoph kein Zweifel besteht, hat in seinem zweibändigen Hauptwerk “Theorie des kommunikativen Handelns” die entscheidende Behinderung der für ihn grundlegenden menschlich-gesellschaftlichen kommunikativen Selbstverwirklichung in der Fremdbestimmung der Menschen durch anonyme Herrschaftsmechanismen des Staates und der Wirtschaft gesehen. Und er nennt diese permanenten Eingriffe (“Verdinglichungseffekte”) der staatlichen Bürokratien und der kapitalistischen Ökonomie in das alltägliche Leben der Menschen “Kolonialisierung der Lebenswelt”.14 

Man könnte die These vertreten, daß die politisch-ökonomisch-kulturelle Kolo­nialisierung, als welche wir die Herrschaftsausübung westdeutscher Machteliten gegenüber der “Lebenswelt” der Ostdeutschen begreifen, nichts anderes ist als eine geschichtlich-dramatische Zuspitzung genau jener Vorgänge, die Habermas auf einer allgemeineren Ebene im Verhältnis von staatsbürokratischer und ökonomischer Machtausübung gegenüber der “Lebenswelt” der Menschen ausgemacht hat.

Ich möchte dazu ein herausragendes Beispiel solcher strukturellen Verwendung des Koloniali­sierungsbegriffs zitieren: In feministischen Diskursen wird die Unterwerfung der Frauen unter die männliche Dominanz im Patriarchat ebenfalls mit dem Begriff der Kolonialisierung beschrieben:15 

“a)      Kolonisation ist ein Gewaltakt. Fremdes Gebiet wird angeeignet und im eigenen Interesse ausgebeutet.

b) Die Kolonisatoren sind darauf angewiesen, daß zumindest nach außen ihre Normen und Wertvorstellungen akzeptiert werden.

c) Sie fühlen sich durch abweichende Normen und Werte gefährdet; diese werden als ungeordnet, chaotisch und bedrohlich wahrgenommen.

d) Der Kolonisator ist darauf angewiesen, die Geschichte der Kolonisierten verschwinden zu lassen. Abweichende Normen und Werte können auf diese Weise biologistisch und in der Regel als primitiv, naturgegeben und notwendigerweise zu unterdrücken interpretiert werden.

e) In Kolonien kommt es zwangsläufig zu Aufständen, zur Rebellion, möglicherweise aber auch zur Befreiung.

f)  Die Befreiung der Kolonialisierten bedeutet genauso jene der Kolonisatoren, auch wenn diese zunächst nur den territorialen Verlust begreifen.”

Selbstverständlich darf ein solches Verfahren der Übertragung von Begriffen aus einem sozialgeschichtlichen Kontext in einen sozialtheoretischen nicht willkürlich erfolgen. Nur wenn sich, “strukturelle” Parallelen nachweisen lassen, ist eine solche Generalisierung gerechtfertigt.

 

 

Bestimmungselemente aus der Kolonialwissenschaft

Bei dem Vergleich zwischen Prozessen der Kolonialisierung in der Vergangenheit und den Prozessen der deutschen Vereinigung zeigen kolonialhistorische Studien, daß das Verhältnis von West- und Ostdeutschland im Prozeß der deutsch-deutschen Vereinigung wesentliche Kriterien der “klassischen” Kolonialisierung erfüllt. Unsere Bestimmungselemente sind

sozioökonomische Dominanz

strukturelle Gewalt der Kolonialherren

  wirtschaftliche Abhängigkeit und Ausbeutung der Kolonisierten

Zerstörung der Identität und der Weltanschauung der dominierten Bevölkerung einschließlich der sozialen Liqui­dation ihrer Eliten.

In der kolonialwissenschaftlichen Literatur lassen sich diese Bestimmungselemente kolonialistischer Macht ebenfalls nachweisen. Wir zitieren einige der markantesten Definitionen.

1. Das Bestimmungselement der soziopolitischen Dominanz pointiert Kohn:16

“A colonial relationship is created when one nation establishes and maintains political domination over a geographically external political unit inhabited by people of any race and at any stage of cultural development.”

2. Graudenz17 greift zur Kennzeichnung des umfassenden Gewaltverhältnisses zurück auf den Imperialismusbegriff: “Wir scheuen uns nicht mehr davor, festzustellen, daß die kolonialen Bestrebungen von gestern nur höchst selten so uneigennützig waren, wie sie in der zeitgenössischen Literatur bevorzugt dargestellt wurden. So wird in der jüngsten Zeit immer häufiger die Auffassung vertreten, daß der Kolonialismus dem Imperialismus gleichzusetzen sei.” Imperialismus ist aber zu definieren als soziopolitische und ökonomische Beherrschung eines Terri­toriums.

     3. Eine zentrale Rolle spielt auch bei den Autoren, die nicht explizit auf den Imperialis­musbegriff rekurrieren, das Moment der ökonomischen Abhängigkeit und Ausbeutung; so identifiziert das Große Meyer-Lexikon18 Kolonialismus um­standslos mit “wirt­schaftlicher Expansion, die in Form politischer Beherrschung einer unterlegenen Zivilisa­tion abgesichert wird [...] Der neuzeitliche Kolonialismus begann im Zeitalter der Entdeckun­gen im 15. Jhd. in einer Verbindung von Rohstoffausbeutung und Missionsgedanken und bestimmte seither das Verhältnis der europäischen Staaten zu den überseeischen Gebieten.” Und Stier u. a.19 prä­zisieren: “Wichtigstes ökonomisches Instrument der Kolonialpolitik des Mono­polkapitals wurde der Kapitalexport. Er erweiterte den Warenexport, verstärkte die indirekten Bindungen an die jeweilige Kolonialmacht und steigerte auf diese Weise die Abhängigkeit und Ausbeutung der kolonial oder halbkolonial domi­nierten Länder.” Neben China bot Indien das schrecklichste Beispiel nicht nur der ökonomischen Ausbeutung, sondern auch der Deindustrialisierung infolge der Kolonialisierung. Jawaharlal Nehru hat diese ökonomische Destruktion in seinem großen Werk “Weltgeschichtliche Betrachtungen”20 im einzelnen beschrieben: Die indische Gesellschaft, deren relativer Wohlstand auf einer hochentwickelten Handwerks- und Manufakturwirtschaft beruhte, wurde ins Elend gestürzt: “Die immer mehr um sich greifende Verbreitung britischer Waren, hauptsächlich Stoffe, brachten der indischen Manufaktur den Tod. Auch gab es dabei noch einen anderen Aspekt [...] Was wurde aus den Millionen Handwerkern, die keine Arbeit mehr hatten? [...] Die Briten hatten kein Interesse daran, Indien zu einem modernen Industrieland werden zu lassen, und sie förderten das Entstehen von Fabriken in keiner Weise.” Hier drängt sich der strukturelle Vergleich auf mit der Deindustrialisierung in Ostdeutschland; auch sie vollzog sich mangels zielbewußter Politik der industriellen Modernisierung.

4. Nicht zuletzt aber wird auch von der Kolonialwissenschaft die Zerstörung der sozio­kulturellen Identität der Kolonialisierten als typisch angesehen; Gründer21 bestimmte diese als massiven Gewaltakt: “Die koloniale Erfahrung (stellt) für die Betroffenen einen wesentlich tieferen Einschnitt in die Geschichte und ihre Kultur dar [...] als für die Kolonial­eroberer. Für die Völker [...] bedeutet die ‘schmerzliche’ Erfahrung des westlichen Imperia­lismus einerseits einen radikalen Bruch mit ihrer Vergangenheit und Identität, anderseits den Ausgangspunkt für einen letztlich wohl unvermeidbaren sozialen und kulturellen Wandel.” Und
Schoettli
22 benennt die Phasen dieses Prozesses: “In der Regel geschieht dies (der Kolonialisierungsprozeß; F.V.), in drei Phasen: möglichst umfassende Zerstörung des vorgefundenen Erbes; Assimilation der Unterworfenen an die Werte der Eroberer; Integration der Besiegten in die eigene Geschichte der Sieger.”

Die historische Kolonialismusforschung gelangte also zu Ergebnissen, mit denen unser Konzept der “Strukturellen Kolonialisierung” übereinstimmt. Es ist daher sachlich gerechtfertigt, den historischen Begriff als generellen Strukturbegriff zu übernehmen. Diese Auffassung wird durch eine monographische Analyse des Kolonia­lisie­rungs­begriffs bestätigt: In einem – nach meiner Kenntnis ersten – Versuch, sämtliche der zahlreichen Formen der Kolonialisierung bzw. des Kolonialismus auf einen allgemeinen Begriff zu bringen, kam Jürgen Osterhammel 1995 zu der Definition: “Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Koloni­sierten durch eine kulturell andersartige [...] Minderheit von Kolonialherren [...] durchgesetzt wird. Damit verbinden sich in der Neuzeit [...] Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.” Die kolonisierte “Gesellschaft [wird] ihrer historischen Eigenentwicklung beraubt, fremdgesteuert, und auf die – vornehmlich wirtschaftlichen (!) Bedürfnisse und Interessen der Kolonialherren umgestellt”. Wobei es im Grenzfall auch “Kolonialismus ohne Kolonien” gibt, d. h. “Situatio­nen, bei welchen sich Abhängigkeiten kolonialistischer Art nicht zwischen ‘Mutterland’ und räumlich entfernter Kolonie einstellen, sondern zwischen dominanten ‘Zentren’ und abhängigen ‘Peripherien’ innerhalb vorhandener Nationalstaaten”.23 Hier finden sich alle von mir genannten Bestimmungselemente der “Strukturellen Kolonialisierung” wörtlich oder sinngemäß wieder.

 

 

Kolonialisierung als zivilisatorischer Prozeß?

Ich kann diese mit unseren Analysebefunden übereinstimmenden Begriffsklärungen nicht abschließen, ohne auch jenes Kolonialisierungsverständnis zu reflektieren, das die Kolonienbildung gar weltgeschichtlich-positiv zu deuten sucht und eine solche positive Wertung durchaus auch auf die Kolonialisierung der DDR bezieht.

Herbert Lüthy24 und Immanuel Geiss25 gehen sogar so weit, “Kolonisation” mit dem menschheitlichen Zivilisationsprozeß als solchem gleichzusetzen: Sie ist, nach Lüthy, “seit Beginn der bekannten Geschichte der gewaltige Prozeß, durch den die Erde entdeckt, für den Menschen erschlossen und von den Menschen besiedelt wurde; der Prozeß, durch den Straßen, Küsten und Ozeane zugänglich ge­macht wurden, durch den immer wieder verschlossene Kontinente, verbotene Reiche und isolierte Gesellschaften von neuen expandierenden Kräften, neuen Techniken, neuen Sitten, neuen Kenntnissen und neuen Formen gesellschaftlicher Organisation durchdrungen oder aufgesprengt wurden. Man kann sagen, daß die Geschichte der Kolonisation die Geschichte der Menschheit schlechthin ist.” Und der ehemals linke Historiker Geiss glaubt zumindest für die Neuzeit feststellen zu können: “Kolonialherrschaft, so unerfreu­lich (!) und hart sie in vieler Hinsicht für die Betroffenen war, ist [...] auch Teilausschnitt dessen, was sich mit dem (zu­gegeben vagen) Begriff der Modernisierung zusammenfassen läßt: Grundlage unserer modernen Welt, in der wir leben.” In diesem Sinn versteht auch der konservative Zeitgeschichtler Baring26 den Kolonialisierungsbegriff, auf die DDR bezogen, positiv: “Es handelt sich (bei der Vereinigungspolitik; F.V.) wirklich um eine langfristige Rekulti­vierung, eine Kolonialisierungsaufgabe, eine neue Ostkolonisation (!), obwohl man das öffentlich fast nicht sagen darf.”

Ich muß es mir an dieser Stelle versagen, solchen allgemeingeschichtlichen oder auch vereinigungs-“geschichtlichen” Positivismus – frei nach Schiller: “Die Weltgeschichte ist das Weltgericht” – seiner Einäugigkeit zu überführen. Immerhin sei wenigstens hingewiesen auf die Blindheit solcher “Modernisierungs”-Theoretiker für die ungeheueren “kolonialistischen” Zerstö­rungswerke, denen seit meh­reren tausend Jahren hochentwickelte (“moderne”) Kulturen zum Opfer fielen, die dem Ansturm gewaltiger, zivilisatorisch weit unterlegener, aber hochmilitarisierter (Reiter-)Völker erlagen27: (wahrscheinlich) die minoische, sicher die mykenische, teilweise die griechische, teilweise die römische, und in der Neuzeit viele ibero-amerikanische, asiatische und afrikanische, die einen durchaus hohen Zivilisationsstandard entwickelt hatten.28 Kolonialisierung, statt als harte Schule mensch­licher Vereinigung und Zivilisierung glorifiziert (zumindest: gerechtfertigt) zu werden, kann mit mindestens gleichem historischen Recht als Ver­nichtungsprozeß hochentwickelter menschlicher Kul­turen im Laufe der vergangenen Jahrtausende interpretiert werden. Ihr Ergebnis: ein giganti­sches kulturgeschichtliches Trümmerfeld, dessen Reste seit 200 Jahren die Archäologen mühsam zu bergen versuchen.

Haben wir aber auf diese Weise die makabren Rechtfertigungen von Kolonial­politik zu­rückgewiesen (die alle an der Grundverkehrtheit der herrschenden Geschichtsschreibung teilhaben: daß die Sieger die Geschichte schreiben), so ver­mag eine solche selbstkritische Refle­xion ideologiefrei die dialektische Frage zu stellen: ob es nicht in einigen Kolonialisie­rungsprozessen – allgemeingeschichtlich29, aber hier speziell im Blick auf die DDR – neben der Destruktion bestehender soziokultureller Strukturen auch das gegeben hat, was der Philosoph Ernst Bloch “destructio destructionis” genannt hat: Abschaffung, Aufhebung, “Abwicklung” disfunktionaler, inhumaner, in sich selbst destruktiver Strukturen und deren Ersetzung durch humanere, funktionalere – und vor allem: demokratischere. Diese positive Destruktion hat es im Zuge der in vieler Hinsicht negativen/koloniali­stischen Domination der DDR durch die BRD zweifellos auch gegeben: ich habe oben einige der demokratisierenden Eingriffe und Umgestaltungen aufgezählt, und ich denke, man kann generell feststellen, daß auch posi­tive Übertragungen westdeutscher Strukturen stattgefunden haben. Nur: Dem ostdeutschen Selbstbewußtsein, damit der Akzeptanz dieser westdeutschen Strukturen, und damit dem Gelingen der inneren “Einheit” wäre es entscheidend zugute gekommen, wenn die Übertragungen westdeutscher soziokultureller Einrichtungen von Ostdeutschen durch deren eigene freie Entscheidung initiiert worden wären statt durch west­deutsches Oktroi.

 

 

Fußnoten

 

1    Vgl. dazu S. 119–146 dieses Bandes.

2    Vgl. dazu das dürftige Ergebnis meiner Nachfrage bei 60 bekannten Politologen hinsichtlich ihrer kritischen Beiträge zur westdeutschen Vereinigungspolitik: Wolfgang Dümcke/Fritz Vilmar: Kritische Zwischenbilanz der Vereinigungspolitik. Eine unerledigte Aufgabe der deutschen Politikwissenschaft, in: Beilage zur Zeitung Das Parlament v. 27. Sept. 1996, S. 35ff.

3    Hrsg. von Wolfgang Dümcke und Fritz Vilmar, 3. Auflage Münster 1996. Eine völlig neu überarbeitete, aktualisierte französische Ausgabe erschien1999 in Paris (Les éditions de l’Atelier): La face cachée de l’unification allemande.

4    In unserer Studie haben wir seit 1992 anstelle des Begriffs der Kolonisierung den Begriff der Kolonialisierung verwendet, weil dieser stärker den negativen Aspekt kolonialistischer Politik pointiert, während Kolonisierung auch positiv, im Sinne von Kultivierung verstanden werden kann. Auf ein derartiges Verständnis wird weiter unten ausführlich eingegangen.

5    Vgl. Elisabeth Nölle-Neumann/Renate Köcher (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1984–92, Allensbach 1993, S. 478.

6    Peter Christ/ Ralf Neubauer: Kolonie im eigenen Land. Die Treuhand, Bonn und die Wirt­schafts­katastrophe der fünf Bundesländer, Berlin 1991, S. 216.

7    François Bafoil: L’Allemange de l’Est: une crise polymorphe, in: Allemagne d‘aujourd‘hui, H. 115, Jannuar/März 1991, S. 43ff.

8    In: Allemagne d‘aujourd‘hui, H. 121, Juni/September 1992, S. 43ff.

9    Jens Reich: Rückkehr nach Europa. Zur neuen Lage der deutschen Nation, Stuttgart 1993, S. 221.

10       Michael Brie: Die Ostdeutschen auf dem Wege vom “armen Bruder” zur organisierten Minderheit?, Berlin 1994.

11       Dümcke/Vilmar: Kolonialisierung der DDR, a. a. O.

12       Laut einer Emnidumfrage, zitiert im SPIEGEL v. 3.7.95, S. 43. Vgl. dazu R. Reißig in diesem Band, bes. S. 65ff.

13       Auch andere heute generell gültige politische Begriffe wie etwa der der Demokratie oder der des Parlaments hatten zur Zeit ihrer Entstehung im Detail höchst differierende, v.a. eingeschränkte Bedeutung; die athenische Demokratie z. B. galt für ca. 40.000 “Vollbürger”, aber weder für die Frauen, noch für die drei- bis vierhunderttausend Sklaven!

14       Mit dem fragmentierten Alltagsbewußtsein, das “eine Aufklärung über die Mechanismen der Verdinglichung” verhindert, “sind die Bedingungen einer Kolonialisierung der Lebenswelt erfüllt: die Imperative der verselbständigten Subsysteme (Staat und Wirtschaft; F. V.) dringen [...] von außen in die Lebenswelt – wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft – ein und erzwingen die Assimilation”. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, TB-Ausgabe Frankfurt 1999, Bd. II, S. 522. Und er präzisiert: “Die [...] Sympto­ma­tik der Verdinglichung habe ich damit erklärt, daß die mediengesteuerten Subsysteme Wirtschaft und Staat mit monetären und bürokratischen Mitteln in die symbolische Repro­duk­tion des Lebens eingreifen” (a. a. O.).

15       Astrid Albrecht-Heide: Über die Kolonialisierung von Mädchen im Patriachat, in Ch. Büttner/ A. Ende (Hrsg.): Die Rebellion der Mädchen. Jahrbuch der Kindheit, Bd. 3, Weinheim 1986, S. 52f.

16       Hans Kohn: Reflections on colonialism, in: R. Strausz-Hupe and H. W. Hazard (Hrsg.): The idea of colonialism, London 1958, S. 4f.

17       Karlheinz Graudenz: Die deutschen Kolonien. Geschichte der deutschen Schutzgebiete in Wort, Bild und Karte, München 1982, S. 11.

18       Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden, Bd. 12, Mannheim/Wien/Zürich 1987, S. 70.

19       Peter Stier und Autorenkollektiv: Handbuch Entwicklungsländer. Sozialökonomische Prozesse, Fakten und Strategien, Berlin (DDR) 1987, S. 10.

20       Düsseldorf 1957, S. 485ff.; besonders S. 489.

21       Horst Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, 3. Auflage Stuttgart 1995, S. 10.

22       Urs Schoettli: Grenzsituation – nach dem großen Kollaps. Zentralasien nach dem Ende der Sowjetunion, in: Neue Zürcher Zeitung, 11–12/05/96, S. 16.

23       Jürgen Osterhammel: Kolonialismus: Geschichte – Formen – Folgen, München 1995, S. 19, S. 21.

24       Herbert Lüthy: Die Kolonisation und die Einheit der Geschichte, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Imperialismus, Königstein/Düsseldorf 1979, S. 44.

25       Immanuel Geiss: Kolonialismus – 100 Jahre später. Ein historischer Rückblick, in: Der Überblick, Heft 1, Hamburg 1984, S. 13.

26       Arnulf Baring: Deutschland was nun?, Berlin 1991, S. 70.

27 Eine sehr detaillierte Darstellung der prähistorischen “Panzerarmeen” in Gestalt hochgerüsteter, aus den Tiefen Ostasiens aufbrechender Reitertruppen, deren “Kolonialisierung” die ackerbauenden Völker lange Zeit nichts entgegenzustellen hatten, lieferte eine Serie von Aufsätzen der – seinerzeit 1990–92 stark archäologisch orientierten – Zürcher Zeitschrift “Museion 2000”. Im Einzelnen haben Robert Sträuli und seine MitarbeiterInnen dargestellt, wie seit dem Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. gewaltige und äußerst brutale nomadische Räubervölker, u. a. Skythen, Assyrer und Dorer, aus den Tiefen Asiens, später speziell aus der Kaukasusregion vordringend, hochentwickelte Ackerbauer-Kulturen erobert und verwüstet bzw. in die Sklaverei geführt haben. Entscheidenden Anteil hatte dabei ihre “Wunderwaffe”, eine bei den Sesshaften unbekannte Reiter- und Streitwagen-Armee, die lange Zeit als unbesiegbar galt.

28       In seinem grundlegenden Werk “Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine weltgeschichtliche Kulturkritik”, Zürich, Stuttgart 1950–1957, hat der große Heidelberger Politologe Alexander Rüstow gezeigt, daß seit dem 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung die Staatsgründungen sich auf der Basis einer solchen militärischen Kolonialisierung vollzogen (Bd. I, S. 53–73). Wenn Rüstow gleichwohl in der Herausbildung “hochentwickelter Zivilisationen” eine “historische Rechtfertigung” der jahrhundertelangen gewaltsamen Kolonialisie­rungsprozesse sehen möchte (a. a. O., Bd. I, S. 98) so stellt er selbst diese Behauptung in Frage, wenn er an späterer Stelle feststellt (II, S. 313), daß die Opfer der europäischen Kolonisation in Südamerika, “bei weitem des grauenvollsten Kapitels der Geschichte vor 1993”, “ohne Zweifel hochentwickelte Zivilisationen” waren, nämlich die der Azteken, der Majas und der Inkas.

29       Allgemeingeschichtlich wird häufig die relativ friedliche, über Jahrhunderte sich hinziehende Kolonisierung (insbesondere der Küstenbereiche) Kleinasiens durch die Griechen als ein solcher positiver Zivilisationsprozeß genannt.

 

 

Bibl. Hinweis: Mein Aufsatz findet sich abgedruckt in F.Vilmar (Hg.), Zehn Jahre Vereinigungspolitik. Kritische Bilanz und humane Alternativen. Berlin 2000